Experteninterviews
Experteninterview: Inkontinenz nach der Geburt – Auswirkungen und Prävention
Das sensible Thema Inkontinenz betrifft nicht nur ältere Personen, sondern auch eine häufig unterschätzte Anzahl an Frauen während der Schwangerschaft und insbesondere nach der Geburt. Um das Schamgefühl und die Symptome zu lindern, haben sich verschiedene präventive und therapeutische Maßnahmen bewährt – für einen unbeschwerten Alltag.
1. Frau Dr. Lenzen-Schulte, wie häufig tritt Inkontinenz nach der Geburt auf und warum sind Frauen besonders nach einer Entbindung gefährdet?
Dr. Lenzen-Schulte: Rund ein Drittel aller werdenden Mütter muss damit rechnen, nach einer Geburt an Harninkontinenz zu leiden. In den überwiegenden Fällen ist das eine Belastungsinkontinenz: Beim Husten, Hüpfen oder Heben kann der Urin nicht gehalten werden. Wir wissen zudem, dass dies leider meist eine Hypothek für das weitere Leben darstellt, sodass drei Viertel der betroffenen Frauen danach harninkontinent bleiben.
Seltener ist die Analinkontinenz, bei der unkontrolliert Darmwinde oder Stuhl abgehen. Diese Art der Inkontinenz stellt ein noch größeres Tabu dar. Die Gefahr dafür ist gegeben, wenn bei natürlichen Geburten der Darmschließmuskel teilweise oder ganz reißt. Mit solchen höhergradigen Dammrissen, wie man sie nennt, ist in bis zu 11 Prozent zu rechnen.
2. Welche Rolle spielt der Beckenboden bei Inkontinenz infolge einer Geburt?
Dr. Lenzen-Schulte: Schon eine Schwangerschaft kann den Beckenboden, auf dem die Organe ruhen, strapazieren. Die größte Belastung entsteht jedoch durch die Dehnung und mögliche Verletzungen von Muskeln, Nerven und Bindegewebe, während das Kind durch den Geburtskanal drückt.
Bei manchen Frauen ändert sich dadurch der Winkel des Blasenhalses, sodass die Abdichtung – dort, wo der Urin aus der Blase in die Harnröhre austritt –, schwächer wird. Die Darminkontinenz ist meist eine direkte Folge einer Schließmuskelverletzung. Auch eine Überdehnung von Nerven des Beckenbodens kann zur Inkontinenz beitragen.
3. Welche psychischen Belastungen sind mit Inkontinenz nach der Geburt verbunden und wie können diese bewältigt werden?
Dr. Lenzen-Schulte: Zunächst erschwert es den Alltag, wenn man unkontrolliert Harn oder Stuhl verliert, ein Alltag, der durch die neue Situation, die Versorgung eines Babys, zusätzlich herausfordernd ist. Das wäre schon stressig genug. Wenn Frauen in den Beruf – unter andere Menschen – zurückkehren, ist das eine weitere große psychische Bürde. Die Patientinnen fragen sich, ob man das riecht oder ob sie rasch genug Toiletten finden.
Zudem ist das Selbstbild der Frauen erschüttert – Inkontinenz verbinden viele mit dem Alter und reduzierten Körperfunktionen. Das passt so gar nicht zu einer vitalen jungen Frau, die gerade Mutter geworden ist. Nicht zuletzt ist die Sexualität betroffen, denn die Schäden spielen sich schließlich im Uro-Genital-Bereich ab. Frauen verlieren in diesem Zustand mitunter beim Intimverkehr Urin (koitale Inkontinenz) und fühlen sich in ihrer Weiblichkeit bedroht.
Umso wichtiger ist es zu wissen, dass es Therapien gibt. Studien zeigen, dass sich die Lebensqualität insgesamt und auch das sexuelle Erleben bessern, wenn die Inkontinenz gut behandelt worden ist.
4. Was können Ihrer fachlichen Einschätzung nach die langfristigen Folgen von unbehandelter Inkontinenz nach der Geburt sein?
Dr. Lenzen-Schulte: Gerade Mütter vernachlässigen sich nach einer Geburt selbst am meisten, da das Baby Vorrang hat. Sie versuchen, etwa mit wenig Trinken und häufigen vorbeugenden Toilettengängen ihr Leid selbst zu lindern. Wenn sich aber die Harnblase an frühes häufiges Entleeren gewöhnt, wird es nur schlimmer: Zur Belastungsinkontinenz kommt dann noch die Dranginkontinenz. Man spürt schon bei geringer Füllung der Blase einen Drang. Allein dieses Beispiel zeigt, dass die Patientinnen so bald wie möglich hilfreiche Therapien benötigen – ich nenne hier Physiotherapie, vielleicht Elektrotherapie und Pessare als erste konservative Maßnahmen.
Insgesamt sind Frauen als Folge von Geburten viel häufiger inkontinent als Männer – das beeinträchtigt ihr privates wie berufliches Leben, alle sozialen Kontakte, die Leistungsfähigkeit und die Lebensqualität in jeder Hinsicht negativ.
5. Wie können Frauen, die aktiv im Leben stehen, dieser Herausforderung begegnen?
Dr. Lenzen-Schulte: Wir wissen, dass mehr als zwei Drittel aller Frauen, die nach Geburten harninkontinent sind, dies aus Scham, weil es ein Tabu ist, von sich aus nicht in der Arztpraxis ansprechen. Aufklärung tut also Not, damit die Frauen erkennen, dass es Hilfen geben kann, die man über Frauenarztpraxen, Beckenbodenzentren oder auch bei spezialisierten Physiotherapeutinnen einfordern sollte – es ist ihr gutes Recht und es steht ihnen zu.
Aber auch das medizinische System muss hellhöriger werden und reagieren, damit die Signale der Betroffenen nicht überhört werden.
6. Worauf sollten Frauen bei der Wahl von Inkontinenzhilfsmitteln besonders achten?
Dr. Lenzen-Schulte: Frauen sind aufgrund ihrer kurzen Distanz vom Darmausgang zum Ausgang der Harnröhre stark für Entzündungen der Harnblase gefährdet. Weil jedes feuchte Milieu Entzündungen fördert, müssen Hilfsmittel wie etwa Vorlagen trocken gehalten werden. Sie sollten gleichzeitig hautverträglich sein, denn eine malträtierte oder gereizte Hautoberfläche ist anfälliger für Bakterien und Pilze. Das gilt vor allem für Hilfsmittel, die Schleimhäute berühren und etwa in der Scheide als Stütze wirken, oder aber für Analtampons zum Abdichten des Darmausgangs.
Leider werden Hilfsmittel aus Budgetzwängen jüngeren Frauen zurückhaltender verordnet, weil man fälschlich hofft, das Problem löse sich mit der Zeit. So sind die betroffenen Frauen gezwungen, sie aus eigener Tasche zu bezahlen. Das macht es für viele umso schwieriger, auf gute Qualität zu achten. Hier gilt es, sie über ihre Rechte gegenüber den Krankenkassen aufzuklären.
7. Wann ist Ihrem Urteil zufolge ein chirurgischer Eingriff notwendig und welche Erfolgsaussichten kann solch ein Eingriff bieten?
Dr. Lenzen-Schulte: Zunächst sollten konservative Möglichkeiten mit Pessaren und einer Physiotherapie (eventuell unterstützt durch Elektrotherapie) ausgereizt werden. Sofern dies nicht mehr hilft, gibt es einen erfolgreichen Standardeingriff für die Belastungsinkontinenz – das ist ein spannungsfreies Bändchen (tension free vaginal tape oder TVT). Es hat sich in Langzeituntersuchungen so klar bewährt, dass überwiegend auch kundige, in Gesundheitsberufen tätige Menschen für sich selbst ein TVT als Therapie wählen.
Erfahrene Urogynäkologinnen und Urogynäkologen haben zudem weitere, minimalinvasive Möglichkeiten, die Kontinenz wiederherzustellen. Man sollte darauf achten, hierfür ein zertifiziertes Beckenbodenzentrum auszuwählen. Bei einer Verletzung der Darm-Schließmuskulatur kommt es auf Schnelligkeit an: die besten Ergebnisse haben jene Operationen, die sofort nach der Geburt vorgenommen werden.
Daher sollte jede Schwangere unmittelbar nach einer Geburt mit Hilfe einer Tastuntersuchung daraufhin getestet werden, ob ihre Schließmuskeln intakt sind. Auch dies dürfen Frauen – oder ihr Partner im Kreißsaal – aktiv einfordern.
8. Ist es möglich, bereits während der Schwangerschaft präventiv aktiv zu werden, um das Risiko einer Inkontinenz zu verringern?
Dr. Lenzen-Schulte: Das ist sogar sehr zu empfehlen. Denn man kann den lädierten Beckenboden nach der Geburt umso besser beüben, je besser man ihn intakt und gesund vor der Geburt kennengelernt hat. Erfahrene PhysiotherapeutInnen bieten sogenannte Beckenboden-Checks vor einer Geburt an. Sie arbeiten zum Teil mit Feedback-Maßnahmen, die einem zeigen, welche Muskeln es auf welche Weise anzuspannen gilt.
Oder man lernt mit Elektroimpulsen, wie sie später für die Therapie angewandt werden, Muskeln kennen, die man vielleicht noch nie zuvor gespürt hat. Wichtig ist dies vor allem dann, wenn Frauen schon in der Schwangerschaft inkontinent werden, denn sie sind umso mehr gefährdet, auch nach der Geburt inkontinent zu bleiben. Daher sollte man hier unbedingt rechtzeitig präventiv tätig werden.
