Urologische Funktionsstörungen gehören zu den sensiblen Themen der Männergesundheit, die einer gleichermaßen professionellen und einfühlsamen Behandlung bedürfen. Im Mittelpunkt der Therapie stehen sinnvoll kombinierte, physiotherapeutische Maßnahmen wie manuelle Techniken an der Wirbelsäule, Darm, Becken und Blase, Atemtechniken und das gezielte Training des externen Sphinkters. Darüber hinaus informiert die Therapeutin über flankierende Maßnahmen zur Unterstützung der körpereigenen Abwehr und präventive Maßnahmen vor einer Operation.
1. Frau Schmuck, können Sie uns etwas über Ihre Arbeit in der urologischen Physiotherapie und speziell im Bereich der Inkontinenz erzählen?
Vor 25 Jahren habe ich mich in meiner Praxis ausschließlich auf die Behandlung von Männern spezialisiert, mit einem Schwerpunkt auf urologische Funktionsstörungen. Dabei steht die Verbesserung der Blasenspeicherfunktion an erster Stelle. Meine Patienten sind nach einer Prostataoperation für kurze Zeit Stressinkontinent und benötigen Unterstützung bei der Rehabilitation der urethralen Verschlusskraft. Im Wesentlichen haben Patienten nach einer Prostataoperation Probleme, ein Blasenspeichervolumen aufzubauen und zu halten. Eine weitere Patientengruppe hat Probleme, das Blasenvolumen zu entleeren. Beispielsweise bei einer Verengung der Harnröhre. Ein weiterer Schwerpunkt in meiner Praxis ist die präoperative Vorbereitung auf eine Prostata-OP.
2. Welche häufigen Missverständnisse oder Mythen gibt es Ihrer Meinung nach über Inkontinenz?
Es gibt viele Männer, die sich nicht operieren lassen wollen, da sie Angst vor Impotenz und Inkontinenz nach einer Prostataoperation haben. Diese Ängste sind verständlich, beruhen jedoch oft auf Mythen. Ein weiterer verbreiteter Irrglaube ist, dass die Rehabilitation nach der Operation alle Probleme lösen wird – das ist allerdings nicht immer der Fall. Die beste Vorsorge ist es, diese Mythen präoperativ zu entkräften und vor einer OP mit dem Training zu beginnen. Informationen und Aufklärung sind entscheidend, um unbegründete Ängste abzubauen.
3. Wie unterscheiden sich die unterschiedlichen Arten von Inkontinenz in der Behandlung?
Eine sehr gute Frage. Bei Inkontinenz unterscheiden wir zwischen Stressinkontinenz (Belastungsinkontinenz) und Dranginkontinenz, sowie Mischformen beider.
Bei der Dranginkontinenz stehen Aufschub-Strategien, Visualisierung und Behandlung der vegetativen Nerven im Vordergrund . Bei der Belastungsinkontinenz wird versucht, das Harnröhrengefühl zu sensibilisieren und Kraft und Ausdauer im externen Sphinkter zu verbessern, um allmählich das Speichervolumen zu vergrößern. Hier spielen Provokationen eine wichtige Rolle. Das heißt, dass allmählich die Schwerkraft, die Bewegung und ein allmählich größer werdendes Speichervolumen in die Behandlung eingeflochten werden muss.
Eine optimale Rehabilitation berücksichtigt alle Aspekte wie Darm, Nerven und Beweglichkeit. Drang- und Belastungsinkontinenz sind zwei verschiedene Probleme, die unterschiedlich behandelt werden müssen.
4. Wie kann Beckenbodentraining bei der Behandlung von Inkontinenz helfen und welche Techniken empfehlen Sie?
Die Behandlungsansätze bei männlicher Inkontinenz unterscheiden sich wesentlich von denen bei Frauen. Während das Beckenbodentraining bei Frauen eine größere Rolle spielt, rückt bei Männern das Training des externen Sphinkters in den Mittelpunkt der Behandlung. Hier kommen manuelle Techniken, Atemtechniken, Mobilisation des Darms und der Synergisten zum Einsatz. Die Blase und der Schließmuskel benötigen Unterstützung durch gut durchblutete und flexible Strukturen. Dafür stehen manuelle Mobilisationstechniken am Beckenboden zur Verfügung. Eine reine Übungsbehandlung reicht nicht aus; das System muss insgesamt harmonisiert werden. Daher sind verschiedene physiotherapeutische Maßnahmen notwendig, um eine optimale Rehabilitation zu gewährleisten.
Ein weit verbreiteter Mythos ist, dass der Beckenboden wie eine Hängematte agieren soll, um Belastungen abzufangen. Tatsächlich sollte der Beckenboden wie ein Trampolin arbeiten: elastisch, weich und federnd, um der Blase eine mobile Unterlage zu bieten. Alltägliche Aktivitäten wie Gehen, Laufen und Joggen fördern diese federnde Funktion und dienen als effektive Prophylaxe. Eine gesunde Lebensweise, ausgewogene Ernährung und regelmäßige Bewegung sind entscheidend. Spezielle Techniken sind erst bei Dysbalancen notwendig, die dann in der Therapie erlernt werden können.
5. Was sind die häufigsten Ursachen für Inkontinenz bei Männern und Frauen?
Bei Männern tritt die Belastungsinkontinenz häufig nach Operationen wie einer Prostataentfernung auf und ist weniger eine Folge von Beckenbodendysfunktionen. Frauen hingegen erleben Inkontinenz meist durch weiches Gewebe , Geburtstraumata und Narbenbildung; insbesondere nach der Menopause aufgrund hormoneller Umstellungen. Während Frauen oft durch eine nachlassende Gewebeelastizität betroffen sind, resultiert das Problem bei Männern meist aus operativen Eingriffen. Meine Praxis konzentriert sich vor allem auf die Unterstützung von Männern nach solchen Operationen.
6. Können Sie uns mehr über Ihren Online-Kurs „Trocken in 6 Wochen“ erzählen und wie dieser Betroffenen helfen kann?
Der Online-Kurs „Trocken in 6 Wochen“, der während der Corona-Zeit entstand, soll Patienten weltweit unterstützen, die nicht in eine Reha wollen. Der Kurs heißt so, weil die Heilung nach einer Operation in der Regel nach sechs Wochen abgeschlossen ist. Patienten können den Kurs eigenständig oder mit meiner Unterstützung per Zoom-Call durchlaufen. Besonders während der Pandemie wollten viele Patienten nicht in eine Reha, und ich konnte ihnen helfen, ihre Beschwerden in sechs Wochen deutlich zu verbessern . Die Patienten bemerkten einen deutlichen Rückgang der Inkontinenz und Abnahme des Hygienematerials – verbunden mit zunehmender Lebensfreude und Unabhängigkeit.
Der Online-Kurs „Trocken in 6 Wochen“ besteht aus sechs Modulen, die den Patienten schrittweise postoperativ unterstützen. Wesentlich ist die langsame Vertikalisierung des Patienten: Von der Rückenlage in die Seitenlage und dann in den Sitz. Zuerst wird der Schließmuskel identifiziert und gezielt trainiert. Sobald der Patient den Schließmuskel identifizieren kann, wird diese Kompetenz in Übungen eingebunden. Der Fokus liegt auf dem Training unter Einfluss der Schwerkraft. Nach fünf bis sechs Wochen wird die Schwerkraft zunehmend genutzt, z.B. durch Vibration auf einem Pezziball, um die Muskulatur zu stärken. Wichtig ist, dass das Training schrittweise unter Belastung erfolgt.
Viele Patienten trainieren vier Wochen lang nur in Rückenlage, wodurch der Schließmuskel nicht lernt, auf vertikale Reize zu reagieren. Dies bereitet ihn nicht auf alltägliche Aktivitäten wie Gartenarbeit oder Laufen vor. Wenn der Schließmuskel nicht weiß, wie er mit Volumen umgehen soll, wird er ein Speichervolumen von 300ml nicht halten können. Ein häufiger Fehler ist , dass Patienten vor dem Training zur Toilette gehen. Stattdessen muss der Schließmuskel auch mit Volumen trainiert werden, damit er auf die Alltagsbelastung vorbereitet ist.
Der Online-Kurs „Trocken in 6 Wochen“ umfasst sechs Module, die didaktisch aufbereitet sind und durch 140 Videos visualisiert werden. In der ersten Woche wird mit wenig Belastung trainiert, die in den Wochen zwei und drei gesteigert wird. Der Kurs erklärt die Bedeutung der Atmung und spezieller Übungen wie das Stehen auf den Zehenspitzen. Patienten können den Kurs online und ortsunabhängig absolvieren, ohne Reha oder Praxisbesuche. Es gibt verschiedene Kursversionen, inklusive meines Coachings. Der Kurs ist international verfügbar und ideal für motorisches Lernen, da er durch Videos unterstützt wird. Es werden auch Themen wie erektile Funktionen, Hilfsmittel und weitere flankierende Maßnahmen für die Männergesundheit behandelt. Der Kurs kann lebenslang genutzt und wiederholt werden, um zunächst die Kontinenz und später die erektile Funktion zu verbessern.
7. Welche Haus- oder Hilfsmittel empfehlen Sie Patientinnen und Patienten mit Inkontinenz?
Ein wesentliches Hilfsmittel nach der OP und nach der Entfernung des Katheters sind Vorlagen. Häufig wissen Männer nicht, dass es spezielle Vorlagen für Männer gibt und greifen oft auf Damenbinden zurück, was nicht optimal ist. Nach der OP werden passende Hilfsmittel bereitgestellt. Frauen kommen damit oft besser zurecht, während Männer zunächst unsicher sind. Es ist wichtig, Männer über die verfügbaren Hilfsmittel zu informieren und ihnen zu zeigen, wie sie diese richtig anwenden können, um den Heilungsprozess zu unterstützen.
Bei der Vorbereitung auf die OP informiere ich die Patienten über geschlechtsspezifische Vorlagen mit unterschiedlicher Saugstärke, die nach Bedarf ausgewählt werden. Es ist wichtig, dass Männer die passende Vorlage wählen, da manche nur wenige Tropfen verlieren und keinen übergroßen Schutz benötigen. So wird der Heilungsprozess unterstützt und der Tragekomfort erhöht.
Für die Inkontinenzvorsorge zu Hause sind spezielle Hilfsmittel wichtig. Eine geeignete Vorlage verhindert ein feuchtes Milieu, das Entzündungen in der Harnröhre begünstigen kann. Cranberry-Produkte, ob als Saft oder in konzentrierter Form, sind zusammen mit D-Mannose essenziell zur Durchspülung der Harnröhre und zur Prävention. Männer und Frauen sollten gut trainiert in der Prävention sein. Die richtige Vorbereitung auf eine Operation ist oft das A und O.
In meinem Online-Kurs erfahren die Teilnehmer auch, wie sie selbst zur Heilung beitragen können. Es ist wichtig, Entzündungen in der Harnröhre zu vermeiden, da sie Übungen und Kontinenz behindern. Patienten müssen Verantwortung übernehmen und nicht sofort zu Antibiotika greifen, da diese die Inkontinenz nicht lindern. Neben der richtigen Erstausstattung und Vorlagen gibt es weitere Hilfsmittel, die in der Praxisberatung besprochen werden. Allgemeine Bausteine werden im Kurs erläutert und auf spezifische Fragen wird individuell eingegangen, um eine umfassende Unterstützung zu bieten.
8. Welche Rolle spielt die psychologische Unterstützung bei der Behandlung von Inkontinenz und wie integrieren Sie diese in Ihre Praxis?
Das ist die wichtigste Frage von allen, denn Inkontinenz betrifft die Würde des Patienten. Viele Männer fühlen sich entwürdigt, wenn sie eine Vorlage tragen müssen. Deshalb wähle ich meine Sprache so, dass sie den Patienten unterstützt und aufbaut. In der Therapie spreche ich die Patienten respektvoll und zugewandt an, frage z.B., ob ich ihre Narbe oder ihren Bauch sehen darf. In einer Eins zu eins-Situation öffnet sich der Patient eher. Ich arbeite in kleinen Schritten und passe die Übungen an die individuellen Ansprüche des Patienten an – je nachdem, was er kann und möchte. Durch gezielte Fragen und respektvolle Kommunikation führe ich die Behandlung und unterstütze den Patienten dabei, seine Würde zurückzugewinnen. Durch die Behandlung entwickelt sich nicht nur die übungstechnische Kompetenz des Patienten, sondern auch die Beziehung zu seinem Körper und der achtsame Umgang mit sich selbst.
Der Patient soll das Gefühl haben, mitentscheiden zu können. Viel Handkontakt an Bein, Hüfte oder Bauch und langsames Sprechen mit Blickkontakt und Empathie sind wichtig. Ich frage z.B., ob es gerade warm wird, wenn ich meine Hand auflege, und nutze das Feedback als Grundlage für den nächsten Übungsschritt. Patienten werden aktiv einbezogen und erhalten Hausaufgaben. Jeder Patient hat eines meiner Bücher, in dem ich Übungen markiere. Die Therapie wird wie ein Strickmuster individuell angepasst. Ziel ist es, dass der Patient meine Praxis mit einem Erfolgsgefühl und einem Lächeln verlässt.
Während der Therapie arbeiten wir uns von großen Vorlagen zu kleineren bis hin zu einem Tempo und schließlich beenden wir die Therapie oft mit einer herzlichen Umarmung.
Männer sind oft sehr empfindlich, wenn es um Inkontinenz geht. Wenn ein Patient mit nasser Hose kommt, habe ich immer Ersatzunterwäsche zur Verfügung, damit es niemals entwürdigend ist. Der Respekt und das Wohlbefinden des Patienten stehen an erster Stelle.
Fazit
Jeder Patient muss verstehen, dass die Rehabilitation schon vor der Operation beginnt. In der präoperativen Physiotherapie lernen Patienten, ihren Schließmuskel zu identifizieren. Nach der Operation hilft dies, schneller kontinent zu werden. Es ist wichtig, sich zu informieren und die beste Klinik in der Nähe zu finden. Ein mitdenkender Urologe und die Zusammenarbeit mit einer physiotherapeutischen Praxis sind entscheidend. Patienten sollten eine Zweitmeinung einholen und sich präoperativ vorbereiten. Neben dem "Trocken in 6 Wochen"-Kurs gibt es auch einen präoperativen Kurs, der darauf vorbereitet sowie meine Bücher als Informationsquelle.
Eine Vitamin D-Substitution halte ich für sehr wichtig, da unser Körper kaum Vitamin D produziert. Es trägt zu einer normalen Funktion des Immunsystems bei und sollte aus meiner Sicht sowohl vor als auch nach der OP eingenommen werden. Ein ausgeglichener Darm ist ebenfalls wichtig, da Darm und Blase eng miteinander verbunden sind und die Speicherkapazität der Blase beeinflussen.
Heutzutage sind die Patienten in meiner Praxis häufig zwischen 40 und 50 Jahre alt, und viele müssen schnell wieder in den Arbeitsprozess zurückkehren, um psychische und finanzielle Belastungen zu vermeiden. Früher traten Inkontinenzprobleme meist bei älteren Menschen kurz vor der Rente auf, aber heute sind die Betroffenen oft noch mitten im Berufsleben. Ein schneller Wiedereinstieg in den Beruf ist entscheidend, insbesondere für junge Familienväter, die verzweifelt sind, wenn sie längere Zeit arbeitsunfähig sind. Eine umfassende Rehabilitation muss all diese Aspekte beinhalten.
Autorenprofil
Frau Dipl. med. päd. Ute Schmuck hat sich in ihrer Privatpraxis für urologische Physiotherapie, Prävention & Rehabilitation auf urologische Funktionsstörungen spezialisiert. Die Physiotherapeutin und Medizinpädagogin berät ihre männlichen Patienten rund um Themen wie Entleerungs- und Speicherstörungen der Blase, Stressinkontinenz und Erektionsstörungen – stets empathisch und respektvoll. Komplettiert wird der Praxisalltag von Dipl. med. päd. Ute Schmuck durch prä- und postoperative Trainingseinheiten, um den Behandlungserfolg sinnvoll zu unterstützen.